Text von Evelin Schultheiß

Töchter des Aufbruchs
Sie waren sprachlos, als sie nach Deutschland kamen, sagt Zaara Araar im Dokumentarfilm Töchter des Aufbruchs – ohne Sprache, im ganz wörtlichen Sinne: Was bedeutet das Wort Akkordarbeit? Was Stücklohn? Wie kauft man ein Stück Rindfleisch, wenn man kein Wort dafür kennt? Viele der Episoden, die im Film erzählt werden, klingen in der Rückschau amüsant, ja regelrecht komisch. Es wird viel gelacht beim Erzählen. Bisweilen aber schwingt im Lachen auch Trauer mit, Schmerz über ein Leben, das viel abverlangt hat.
Die fünfzehn Frauen, die in dem Dokumentarfilm über die Lebenswege von Migrantinnen zu Wort kommen, sprechen offen und selbstbewusst über ihre Erlebnisse, auch über die verletzenden und beschämenden Erfahrungen, die sie machen mussten. Die meisten von ihnen kamen Ende der 1960er Jahre als sogenannte Gastarbeiterinnen nach Deutschland. Sie verließen ihre Herkunftsländer - Griechenland, Italien, die Türkei, die damalige Sowjetunion oder auch das damalige Jugoslawien - und ließen ihre Familien und ihr bisheriges Leben dort zurück. Es waren wirtschaftliche und politische Gründe, die sie eine bessere Zukunft suchen ließen – nicht nur für sich. Sie handelten immer auch in dem Gedanken, ihre Familie in der Heimat auf diese Weise unterstützen zu können. Wie Zaara Araar. Sie ermöglichte mit ihrer finanziellen Unterstützung ihren Geschwistern in Tunesien zu studieren und ist heute stolz darauf, dass sie alle es „geschafft“ haben. Dass sie dafür ihre eigenen Kinder bei ihrer tunesischen Verwandtschaft lassen musste, treibt ihr im Gespräch darüber die Tränen in die Augen.
Aber die Frauen wären nicht Töchter des Aufbruchs, hätten sie sich neben der Hoffnung auf ein besseres Leben nicht auch vom Reiz des Neuen, von Abenteuerlust und Freiheitsgedanken antreiben lassen. „Komm mit mir wandern, ich habe Wanderlust...“, singt die junge Rapperin Ebow X und bringt mit ihrem kraftvoll-dynamischen Song das Leitmotiv des Films musikalisch zum Ausdruck. Nichts in ihrem Leben war ihr so wichtig wie Freiheit, sagt Inciser Kurt. Dieser Wunsch ging so weit, dass sie sich, als die Kinder das Haus verließen, von ihrem Mann trennte, um fortan ihr Leben selbstbestimmt zu leben. Sie zwang ihre Familie in der Türkei und ihr türkisches Umfeld in München, sich mit diesem Konventionsbruch auseinanderzusetzen. Ihr Bruder sprach jahrelang kein Wort mehr mit ihr.
Der Film überlässt den Frauen das Terrain ganz und gar, gibt ihnen die größtmögliche Freiheit der Darstellung und schafft ihnen den Raum, den sie für ihre Erzählungen brauchen. Die vielen Einzelgeschichten fügen sich zu einer Geschichte aus vielen Stimmen, die im Grunde das Leben beschreiben. Die Diskretion der Kamera – sie ist wie selbstverständlich dabei, wenn die Frauen beginnen zu erzählen – und der Verzicht auf einen dirigierenden Begleitkommentar lassen eine Unmittelbarkeit entstehen, die den Zuschauer einnimmt für die Protagonistinnen. Nicht im Sinne einer Identifikation, eher geht es um Reflexion und Aufmerksamkeit. Was er sieht, ist keine Reportage, die sprachlich im Gestus des Wissens doch wieder auf Distanz hält. Er sieht einen klassischen Dokumentarfilm, der ihn, den Zuschauer, als Eigeninstanz einbindet und ihm eben nicht wohlmeinende Klischees zur „Migrationsproblematik“ präsentiert.
So sucht man als Zuschauer denn vergeblich nach einer wie auch immer gearteten Opfer- oder Vorwurfshaltung bei den Beteiligten – obwohl es allen Grund für Anklage gäbe, wie wir alle wissen. Weiter als die Aussage, dass „man es in Deutschland ja nicht sagen dürfe, dass die ausländischen Arbeitskräfte ausgenutzt wurden“, geht die offene Missbilligung nicht. Und sie wird gleich wieder relativiert durch die Überlegung, dass hilfreicher als der Vorwurf der Ausländerfeindlichkeit das aktive Engagement – gewerkschaftlich oder politisch oder in anderer Weise - für die eigene Sache sei. Der Schmerz der Frauen, aber auch ihre Wut, zeigt sich eher in dem, was sie nicht erzählen, was aber im Gesagten als nicht Bewältigtes anklingt. Diese Leerstellen sind es auch, die verhindern, es sich als Zuschauer vorschnell im Denkhorizont der Stereotype bequem zu machen. Nein, wir wissen es nicht wirklich, wie der Lebensweg einer Migrantin ausgesehen hat und aussieht. Um eine Ahnung und Vorstellung davon zu bekommen, sollten wir uns damit beschäftigen, indem wir uns zum Beispiel auf Lebensgeschichten, wie sie im Film erzählt werden, einlassen.
Die Migrantinnen haben ihre Sprachlosigkeit überwunden und die deutsche Sprache gelernt, um sich möglichst schnell wieder frei bewegen zu können. Auch Hayfa Ahmed, die mit ihrer Tochter 2006 aus dem Irak vor dem Krieg geflohen ist. Sie besuchte in Deutschland sofort einen Sprachkurs, auch in der Absicht, wie im Irak schon, für die Rechte von Frauen wieder politisch aktiv werden zu können. Die Kenntnis der Sprache, erklären die Frauen unisono, ist zwingende Voraussetzung. Für die Verständigung im Alltag ohnehin, aber auch, um mit den kulturellen Unterschieden umgehen zu lernen. Sie haben aus ihren Erfahrungen den Schluss gezogen, dass Anpassung an eine dominante Kultur perspektivisch nicht weiterhilft. Worum es, so sagen sie, im Kern geht, ist, „fremde“ Mentalitäten verstehen zu lernen, Fremdheit und die sich damit verbindende Angst auf allen Seiten, in allen sozialen Schichten abzubauen. Dann vielleicht würde auch kein Migrantenkind mehr den unbedingten Wunsch verspüren – wie die Studentin Roula Balhas rückblickend von sich erzählt –, deutsch zu werden, um endlich dazuzugehören.
Die mit viel Witz, aber auch analytischem Scharfsinn erzählten Geschichten der Frauen laufen zusammen zu einer großen Geschichte über Aufbruch, Ankunft und Leben in einer zunächst fremden Kultur, die ihrerseits nicht weiß, wie mit den „Fremden“ umgehen, weil diese, wie sich schnell zeigte, eben mehr waren und sind als nur Arbeitskräfte. Verordnete Toleranz hilft hier nicht viel. Dass es nicht die Ausländer gibt, von denen hierzulande noch viel zu häufig die Rede ist, zeigen die Töchter des Aufbruchs auf ihre ganz eigene Weise. Einfache Erklärungen sollte man besser an anderer Stelle suchen – auch eine Botschaft des Films.
Evelin Schultheiß
Lektorin und Autorin
Hamburg, 13.02. 2015